Als ich noch ein kleines Kind war, freute ich mich immer, wenn Post für mich kam. Dies kam zwar nicht oft vor, genauer gesagt vielleicht dreimal im Jahr, aber trotzdem schaute ich jeden Tag in den Briefkasten. Was für eine Überraschung war es doch jedesmal, wenn wirklich eine Postkarte oder ein Brief für mich da war. Einmal, ich konnte es kaum glauben, kam sogar Werbung für mich. Wie freute ich mich über meinen ersten Quelle-Brief über "Küchengeräte". Nein, was war ich als Neunjähriger stolz auf diese Post, und wie fühlte ich mich dabei erwachsen. Echte Post für mich!
Später dann, als ich älter wurde, freute ich mich immer noch auf Post und schaute auch täglich in den Briefkasten. Meist war auch etwas für mich dabei, aber die Freude war deutlich nicht mehr so groß wie früher.
Seit nun meine Adresse wie ein stinknormales Handelsgut von Firmen und Gesellschaften gekauft und verkauft wird - und Ihre Adresse mit Sicherheit auch - bekomme ich täglich Unmengen von Post. Nicht, daß ich etwas gegen Briefe oder Postkarten hätte, nein, das bestimmt nicht. Aber ich ärgere mich fast jedes mal über Werbepost. Wie plump wirbt man denn da um mich? Täglich habe ich ein paar Briefe im Briefkasten, bei denen mir schon der Umschlag verrät, daß ich mal wieder 25.000.000 DM gewonnen habe. Natürlich den Hauptpreis. Aber entweder bekommt jeder solche Briefe, oder aber ich bin verflucht wirklich ewig der Gewinner zu sein. Ich tippe aber mehr auf das Erste. Ich habe mir schon ernsthaft überlegt, ob ich die Absender nicht fragen sollte, ob sie mir statt Post zu schicken nur das Porto für diese überweisen könnten. Selbst Rockefeller würde dann vor Neid erblassen. Aber nicht nur schon gezogene Hauptgewinne kommen in mein Haus, sondern auch Lose, Puzzles und Rubbelkarten.
Natürlich paßt mein Puzzle immer, mein Los hat stets die richtige Gewinnummer, und jedes Feld, das ich freirubble, gibt mir selbstverständlich den Hauptgewinn.
Eigentlich könnte ich reich und glücklich sein, aber ich bin es nicht. Reich wird nur die Entsorgungswirtschaft und glücklich die Absender, weil sie neue Adressen zum Handeln und Verkaufen bekommen, denn es soll doch tatsächlich Menschen geben, die diese Taktik nicht durchschauen und die Lose, und was den Werbern sonst noch alles einfällt, zurückschicken, und manche gewinnen sogar wirklich. So wie neulich eine Bekannte von mir. Sie bekam einen wunderschönen Porzelanfingerhut geschickt. Sofort entbrannte meine Habsucht, und ich beantwortete jeden Brief und jede Postwurfsendung, was dazu führte, daß meine Adresse immer weiter verbreitet wurde und ich nun immer mehr Post bekomme.
Gewonnen habe ich noch nichts, aber ich warte ständig weiter. Mittlerweile kommt der gelbe Lastwagen von der Post und setzt mehrere Briefsäcke vor meinem Haus ab. Ich habe meine Stellung gekündigt und beantworte nur noch Briefe. Da nicht alle Firmen das Rückporto für die Antworten übernehmen, bringt der Postbote stets auch mehrere Bögen Briefmarken mit.
Um die Briefmarken kaufen zu können, verkaufte ich mein Haus, mein Auto und sogar meinen Briefkasten, weil ich den ja nicht mehr brauche. So viele Briefe würden eh nicht reinpassen. Ich sitze nun an einem Campingtisch in der Einfahrt meines ehemaligen Hauses, damit sich die Adresse nicht ändert, und beantworte Tag und Nacht Werbepost. Die Heilsarmee bringt mir Mittags einen Teller Suppe, damit ich nicht völlig abmagere, und das rote Kreuz bringt mir für die Wintermonate eine warme Decke.
Vor drei Monaten gewann ich dann nach Jahren des Wartens endlich eine Probe Haarwaschmittel. Ich freute mich so über den Gewinn, daß ich an einem Herzinfarkt starb. Aber ich konnte glücklich auf ein erfülltes Leben zurückschauen.
Wer hat je theoretisch schon so viele Hauptpreise gewonnen wie ich?
verfasst im November 1996, Foto: pixelpart / pixelio.de