Kurzgeschichten

Hubertus und ein Fuchs

Ein großes kulturelles Ereignis der waidmännischen Fachwelt ist wohl die Hubertusfeier. Dieses Fest kann als "Erntedankfest" der Jäger betrachtet werden, jedoch gibt es gravierende Unterschiede. Während beim Erntedankfest Architekten, Bankkaufleute und Kurzwarenverkäufer für die Früchte des Feldes danken, und dafür, daß die Frucht gut in die Scheunen kam, so sind es bei der Hubertusfeier doch wirklich hauptsächlich Jäger, die da in festlicher Runde ihre "Ernte" begutachten. In diesem Jahr hatte auch ich die Gelegenheit, diesem Zeugnis der Jagdkultur beizuwohnen. Seit einem Jahr wurde ich bestens von meinem Vater, der gerade einen Jägerkurs macht und auch die ganze Familie bei jeder sich bietenden Möglichkeit mit Jagdwissen versorgt, darauf vorbereitet. So lernte ich schon sehr früh die Jägerterminologie kennen. "Windfang" zum Beispiel nennt der Weidmann die Nase eines Rehes, und wenn der Jäger von "Lichtern" redet, so meint er stets die Augen. Eine Katze ist ein "wilderndes Raubzeug", Blut heißt "Schweiß" und schneiden heißt "abschärfen". Eine "Strecke" ist nicht eine Entfernung, sondern eine Stückzahl (an gejagten Tieren nämlich), und wenn der Jäger auf die "Kanzel" geht heißt das nicht, daß er predigen möchte, sondern im Gegenteil sehr ruhig bleiben will um auf Wild zu warten.

Zwei Tage vor der Hubertusfeier wurde eigens eine Treibjagd abgehalten, um Beute für die Strecke zu bekommen. Das Ergebnis: Ein Fuchs. In meinem Kopf entstand unweigerlich folgende Szene: Dreihundert Jäger scharen sich um einen Fuchs und danken mit Hörnern, Reden und Fackeln dem Herrgott für die phantastische Jagd und dem Fuchs, daß er wenigstens so fair gewesen war und bei ihnen mitspielen wollte. Irgendwie taten mir die Jäger leid, und ich erklärte mich bereit, meine Plastikente als Federwild zur Verfügung zu stellen. Meine Hilfsbereitschaft wurde aber leider abgelehnt.

Die Feier selbst fand in einem Kloster statt, und alle Jäger des Landkreises versammelten sich in ihren typischen Lodenmänteln. Das Gesamtbild, das sich dem Betrachter von weitem bot, war sehr amüsant: Die Jäger, die sich um die Strecke aufgestellt hatten, glichen einer Gruppe Robin Hood-Imitatoren, die sich in der Fußgängerzone um einen Edelstahlreinigungspastenverkäufer aufgebaut hatten, der mit seinem Wundermittel ohne Mühe selbst Kohle zum Spiegeln brachte.

Als wir uns näherten, empfing uns ein Jäger und teilte gleich mit, daß sich zu dem berüchtigten Fuchs noch ein paar andere Tiere gesellt hätten, um bei der Hubertusfeier mitzuspielen. So wurde es doch noch eine stolze Strecke, die auch ohne meine Plastikente auskam.

Dann begann eine Gruppe von Bläsern zu spielen. Ich dachte, es bedeutet "Kavallerie kommt!" Es kam jedoch keine, aber was versteh ich schon als Nicht-Jäger davon. Danach hörte ich etwas von einem "Kreisjägermeister". Das Wort war mir unbekannt. Ich kannte zwar "Jägermeister", den Kräuterlikör in der grünen Flasche, der mir nicht schmeckt und den die Alkoholiker immer vor dem Kiosk trinken, bevor sie andere Menschen anpöbeln. Aber "Kreisjägermeister"?
Ich bestellte ein Glas, denn ich bin Neuem nicht verschlossen, und man will ja auch nicht weltfremd wirken. Mein Nachbar erklärte mir jedoch behutsam, daß es sich um eine Person handelt, die nun eine Rede halten will. Interessiert hörte ich zu und merkte, daß mein Bild, das ich von den Jägern hatte, nicht stimmte. Ich ging zum Beispiel immer davon aus, daß das Wild mit einem Gewehr erschossen wird, aber der Kreisjägermeister bat die Bläser, das Wild "totzublasen". Ja, sie haben richtig gelesen, das Wild wird neuerdings totgeblasen. Ich traute meinen Ohren nicht, aber nachdem die Band jedes einzelne Tier mit "Kavallerie kommt!" totgeblasen hatte, mußte auch ich es als durchaus kritischer Betrachter glauben.

Dann gingen wir in das Kloster um noch einen Gottesdienst abzuhalten. Nachdem alle Jäger des Landkreises sich in der Kirche einen Platz ergattern konnten, begann auch schon der Gottesdienst. Eine der besten Bläser-Gruppen in Deutschland beendete jeden Liturgiepunkt mit einem festlichen "Kavallerie kommt!", das in dem alten Gewölbe der Klosterkirche sehr festlich klang und noch würdevoll nachhallte. Es gefiel mir so gut, daß es mir jedesmal vor freudiger Entzückung eiskalt den Rücken herunterlief. Dieses erhebende musikalische Klangerlebnis wurde aber stets jäh durch ein wohl sehr mitteilungsbedürftiges Kind unterbrochen. "Mama, ein Jäger!", schrie es in die andächtige Stille. Zuerst amüsierte mich das Kind, obwohl ich viel lieber noch den nachhallenden Klängen gelauscht hätte, aber das Kind entdeckte ständig einen neuen Jäger, den es jedesmal mit erstaunlicher Konsequenz ankündigte, und so die ganze Gemeinde an seinen visuellen Wahrnehmungen teilhaben ließ. "Mama, ein Jäger!", schrie es erneut, "Mama, ein Jäger!"

Der Pfarrer erklärte in seiner Predigt, warum dieser Hubertus als Schutzpatron der Jäger gilt. Dieser Hubertus sah - sie werden es nicht für möglich halten - er sah auf dem Kopf eines Hirsches ein Kreuz leuchten.

Ich kenne mehrere Menschen, die sehen auch irgendwo Kreuze leuchten, aber diese Leute werden im allgemeinen mit sehr starken Psychopharmaka in geschlossenen Anstalten aufbewahrt. Eine weitere Möglichkeit wäre, daß jener Hubertus eine dieser weiter oben erwähnten grünen Flaschen auf einmal ausgetrunken hat und nun das Etikett der Flasche, auf der irgend ein anderer Psychopath einen Hirsch mit Kreuz abgebildet hat, in seinem versoffenen Hirn im Rausch mit der Realität verwechselt. An dieser Stelle sei auch noch einmal auf die schädlichen Folgen des Alkohols hingewiesen!

Apropos Alkohol: Mir kommt eine Idee, wie dieser Kreisjägermeister zu seinem Titel kam. Er hatte wohl zusammen mit Hubertus einen über den Durst getrunken. Folgender Dialog hat sich dann wohl zwischen den beiden abgespielt:
(Den Kreisjägermeister, dessen eigentlicher Name mir unbekannt ist, nenne ich im Folgenden einfach Karl)

Karl: Prost Bertel! (Das ist Hubertus' fiktiver Spitzname)

Hubertus: Prost, Karle! (beide leeren die Gläser)

Karl: Auf Bertel, trinken wir noch einen!

Hubertus: Ja Karle, Prost!

Karl: Prost! (Beide können sich kaum noch auf dem Sitz halten; zwei leere "Jägermeister"-Flaschen stehen vor ihnen)

Hubertus: Karle! Ich sehe einen Hirrrrrrsch! Karle, mit einem Kreuz auf dem Kopf! Karle! Das Kreuz leuchtet mir entgegen! Karle, ich bin ein Heiliger!!!

Karl: Wenn das so ist, dann bin ich (er schaut auf das Etikett) der Jägermeister! Oh Gott, mir dreht sich alles im Kreis! Bertel, nenne mich ab sofort "Kreis-Jägermeister". Ich bin der Kreis-Jägermeister! Bertel...

(die beiden werden von der Polizei von der Bank vor dem Kiosk weggetragen, um die vorbeigehenden Passanten nicht zu stören und werden dann in die...

"Mama, ein Jäger!" Ich erwachte aus meinem Wach-Traum. Ich muß wohl während der Predigt mit den Gedanken abgeschweift sein. Ein Blick auf den Programmzettel verriet mir, daß ich sogar einmal "Kavallerie kommt!" verpaßt habe. Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf den Pfarrer.

Zum Abschluß des Gottesdienstes erklang erneut die Blaskapelle, bei der sich der Pfarrer auch für das "ins Herz blasen der Guten Nachricht" bedankte, mit dem bekannten Stück "Halalie". Das Stück klingt wirklich sehr gut, aber der Name dafür wurde wahrscheinlich auch von Hubertus und Karl bei einem ihrer Gelagen festgelegt.

Nachdem alle zum "Schüsseltreiben" (was das auch immer sein mag) gegangen waren, stand ich noch viele Stunden allein vor dem Kloster und wartete auf die Kavallerie. Aber sie kam nicht. War wohl alles nur Show!

Ich ging enttäuscht zu meiner Plastikente, die im Auto für den Fall wartete, daß es nur beim Fuchs geblieben wäre und erzählte ihr von der Feier.

verfasst im November 1996 nach dem Besuch einer Hubertusfeier
Foto: Rainer Sturm  / pixelio.de

Der Hauptgewinn

Als ich noch ein kleines Kind war, freute ich mich immer, wenn Post für mich kam. Dies kam zwar nicht oft vor, genauer gesagt vielleicht dreimal im Jahr, aber trotzdem schaute ich jeden Tag in den Briefkasten. Was für eine Überraschung war es doch jedesmal, wenn wirklich eine Postkarte oder ein Brief für mich da war. Einmal, ich konnte es kaum glauben, kam sogar Werbung für mich. Wie freute ich mich über meinen ersten Quelle-Brief über "Küchengeräte". Nein, was war ich als Neunjähriger stolz auf diese Post, und wie fühlte ich mich dabei erwachsen. Echte Post für mich!

Später dann, als ich älter wurde, freute ich mich immer noch auf Post und schaute auch täglich in den Briefkasten. Meist war auch etwas für mich dabei, aber die Freude war deutlich nicht mehr so groß wie früher.

Seit nun meine Adresse wie ein stinknormales Handelsgut von Firmen und Gesellschaften gekauft und verkauft wird - und Ihre Adresse mit Sicherheit auch - bekomme ich täglich Unmengen von Post. Nicht, daß ich etwas gegen Briefe oder Postkarten hätte, nein, das bestimmt nicht. Aber ich ärgere mich fast jedes mal über Werbepost. Wie plump wirbt man denn da um mich? Täglich habe ich ein paar Briefe im Briefkasten, bei denen mir schon der Umschlag verrät, daß ich mal wieder 25.000.000 DM gewonnen habe. Natürlich den Hauptpreis. Aber entweder bekommt jeder solche Briefe, oder aber ich bin verflucht wirklich ewig der Gewinner zu sein. Ich tippe aber mehr auf das Erste. Ich habe mir schon ernsthaft überlegt, ob ich die Absender nicht fragen sollte, ob sie mir statt Post zu schicken nur das Porto für diese überweisen könnten. Selbst Rockefeller würde dann vor Neid erblassen. Aber nicht nur schon gezogene Hauptgewinne kommen in mein Haus, sondern auch Lose, Puzzles und Rubbelkarten.

Natürlich paßt mein Puzzle immer, mein Los hat stets die richtige Gewinnummer, und jedes Feld, das ich freirubble, gibt mir selbstverständlich den Hauptgewinn.

Eigentlich könnte ich reich und glücklich sein, aber ich bin es nicht. Reich wird nur die Entsorgungswirtschaft und glücklich die Absender, weil sie neue Adressen zum Handeln und Verkaufen bekommen, denn es soll doch tatsächlich Menschen geben, die diese Taktik nicht durchschauen und die Lose, und was den Werbern sonst noch alles einfällt, zurückschicken, und manche gewinnen sogar wirklich. So wie neulich eine Bekannte von mir. Sie bekam einen wunderschönen Porzelanfingerhut geschickt. Sofort entbrannte meine Habsucht, und ich beantwortete jeden Brief und jede Postwurfsendung, was dazu führte, daß meine Adresse immer weiter verbreitet wurde und ich nun immer mehr Post bekomme.

Gewonnen habe ich noch nichts, aber ich warte ständig weiter. Mittlerweile kommt der gelbe Lastwagen von der Post und setzt mehrere Briefsäcke vor meinem Haus ab. Ich habe meine Stellung gekündigt und beantworte nur noch Briefe. Da nicht alle Firmen das Rückporto für die Antworten übernehmen, bringt der Postbote stets auch mehrere Bögen Briefmarken mit.

Um die Briefmarken kaufen zu können, verkaufte ich mein Haus, mein Auto und sogar meinen Briefkasten, weil ich den ja nicht mehr brauche. So viele Briefe würden eh nicht reinpassen. Ich sitze nun an einem Campingtisch in der Einfahrt meines ehemaligen Hauses, damit sich die Adresse nicht ändert, und beantworte Tag und Nacht Werbepost. Die Heilsarmee bringt mir Mittags einen Teller Suppe, damit ich nicht völlig abmagere, und das rote Kreuz bringt mir für die Wintermonate eine warme Decke.

Vor drei Monaten gewann ich dann nach Jahren des Wartens endlich eine Probe Haarwaschmittel. Ich freute mich so über den Gewinn, daß ich an einem Herzinfarkt starb. Aber ich konnte glücklich auf ein erfülltes Leben zurückschauen.

Wer hat je theoretisch schon so viele Hauptpreise gewonnen wie ich?

verfasst im November 1996, Foto: pixelpart  / pixelio.de

In ewigem Eis

Eis. Kälte und Schnee. Viele Stunden ohne Hoffnung in diesem ewigen Eis gefangen. Ich war erschöpft und müde. "Nur nicht einschlafen! Nur nicht einschlafen!", murmelte ich vor mich hin. Mit blaugefrorenen Fingern bewegte ich mich langsam weiter. Ich war falsch ausgerüstet. Ich hatte keine Handschuhe dabei, das Schuhwerk war spärlich, meine Hose kältedurchlässig und meine Füße bereits durchgefroren. Jede Berührung und jede Bewegung meiner Finger schmerzte. Mit meiner letzten Körperwärme versuchte ich, wenigstens meine Finger vor dem Abfrieren zu schützen und steckte sie einige Minuten in die Achselhöhlen. Langsam spürte ich die Finger wieder ein wenig, doch ich konnte nicht so verharren, ich durfte nicht aufhören mich zu bewegen, die Kälte hätte mich sonst noch voll zu Boden gestreckt. Nur nicht einschlafen! Weiter wühlte ich verzweifelt mit meinen bloßen Händen im puren Eis. Der Schmerz und die Hoffnungslosigkeit trieben mir Tränen in die Augen. Welche Schande würde auf mir lasten, wenn ich ohne Fund zurückkehren würde, andererseits ... welchen Sinn hätte es, hier ehrenvoll zu sterben? Schon wollte ich resignieren und mit letzter Kraft mein Leben retten. Träge, müde und erschöpft übersah ich noch ein letztes Mal das Terrain. Plötzlich sah ich, daß das Eis etwas weiter unten eine andere Färbung bekam. Etwas muß darunter verborgen sein, das ein wenig durchscheint. Hier könnte ich richtig sein. Obwohl ich meine Finger nicht mehr bewegen konnte, buddelte ich weiter. Die Hoffnung trieb mich voran und hielt die letzte kleine Flamme Leben in mir am glühen. Plötzlich spürte ich steifgefrorene Teile eines Körpers, die nicht zu mir gehörten. Was würde mich erwarten, wenn ich weitergraben würde? Die Entdeckerlust trieb mich an. Ich buddelte und buddelte und buddelte. Nach anstrengenden Grabungen konnte ich es langsam bergen. Ich streifte die Eiskristalle ab und betrachtete meinen Fund genau. Ich konnte es kaum glauben, ich hatte Erfolg. Es war mir tatsächlich gelungen. Ich schnappte mir nun diesen Rehrücken, schlug erleichtert die Tiefkühltruhe zu und dachte bei mir: "Die Truhe muß wohl auch mal wieder abgetaut werden!"

verfasst im November 1996, Foto: Barney O´Fair  / pixelio.de

Bittere Budgetverluste bei banalen Besuchen bedeutender Buchhandlungen

Als ein Blick auf den Kalender erkennen ließ, daß ich noch am selben Abend auf eine Geburtstagsparty einer guten Freundin eingeladen war und sich das Geschenkekaufen nicht mehr länger hinauszögern ließ, war ich nun doch gezwungen, mir so langsam über ein Geschenk klar zu werden. Da ich im Bezug auf Geschenke nicht unbedingt der begnadete Ideenlieferant bin, alle meine Freunde würden diese Aussage ohne zu zögern kräftig nickend bestätigen, pflege ich immer, bis zum letzten Moment die Sache vor mir herzuschieben. Wer weiss, vielleicht fällt mir ja auch mal noch was ein. Und da ich bei dieser Freundin mein Not-Reporteure, welches aus Douglas-Gutscheinen, Kino- oder Essensgutscheinen besteht, schon aufs Äußerste strapaziert hatte, mußte ich mir nun ernstlich Gedanken machen.

Mein planloses Irren durch die Innenstadt auf der Pirsch nach einem Geschenk führte mich in einen Buchladen. Eigentlich fand ich diese Idee nicht schlecht, vielleicht finde ich etwas passendes für sie. Nur habe ich in Buchläden immer das Problem, daß ich auch viel passendes für mich finde. So schwor ich mir bei irgend etwas mir sehr wichtigem (was es genau war, habe ich vergessen), daß ich für mich unter keinen wie auch immer gearteten Umständen ein Buch kaufen werde. Ich betrat den Laden und sah gleich am Eingang auf einem Tisch in einer Sonderaktion schöne Kunstbücher. Zwei Exemplare haben es mir sofort angetan. Das eine war eine Kunstsammlung von Monet, dessen Bilder mir schon immer gefallen haben, und das andere Buch war mit Kunstwerken von Rosina Wachtmeister. Da meine Freundin sich darüber wahrscheinlich nicht absonderlich freuen würde, nahm ich drei Bände für mich mit.

So würde ich nicht weiterkommen, dachte ich bei mir. Ich machte mir Gedanken, was meiner Bekannten wohl gefallen könnte. Ich ging zu den Cartoons. Ich mag nämlich den bissigen Humor, den einige Cartoonisten in ihren Werken zeigen.

Uli Stein hat ein neues Buch herausgebracht. Ich kannte es noch nicht. Dieser Mißstand muß selbstverständlich behoben werden. Da aber nur noch ein Exemplar vorhanden war, mußte ich für sie wohl doch ein anderes Buch suchen.

Eine freundliche Verkäuferin fragte, ob sie mir helfen könne. Ich verneinte und ging eine Treppe nach oben. Zufällig stieß ich an einen Tisch, auf dem einige Horrorbücher ausgestellt waren. "Hmmm!" dachte ich, "das wäre wohl was." Sie erzählt nämlich oft - und wenn ich sage oft, dann meine ich eigentlich zu oft. Viel zu oft - von solchen Büchern. Ich blätterte gedankenverloren im Buch umher. Als Dr. Leadbeader die Schädeldecke entfernt hatte, quoll ein drittes zuckendes Auge aus der klaffenden Wunde. Er legte mit dem Skalpell das Auge frei und Fingernägel und Zähne kamen im Gewebe zum Vorschein. Ich legte das Buch zur Seite. Ich kann an sowas keinen Spaß finden. Nun gut, ich bin ein weltoffener Mensch. Ich las noch einige Klappentexte, aber nachdem sich eine aufgebogene Büroklammer im Auge eines Superhelden wiederfand, der von drei Männern malträtiert wurde, mußte ich mir eingestehen, daß mir zu dieser Art von Literatur ein wenig der Zugang fehlt. Aber ich dachte, hier würde ich wohl am ehesten etwas passendes finden. Nach einer Stunde kam noch einmal die freundliche Verkäuferin, wieder schickte ich sie weg. Nachdem ich die Ordnung auf dem Tisch etwas meinem Ordnungssinn angepaßt hatte, beschloß ich, daß solche Bücher nicht gut für die Entwicklung eines Menschen sein können, und ich ging ein paar Regale weiter. Ich kam an den Kochbüchern vorbei, verweilte aber nur unterdurchschnittlich lange dort, weil sie nicht gerne kocht. Als ich auf dem Weg zu den Romanen bei den Bastelbüchern vorbei kam, stach mir ein preiswertes Origamibuch in die Augen. Ich ließ es aber liegen. Zumindest für fünf Minuten. Da sich meine Gedanken aber immer um das Mysterium der Papierfalttechnik drehten, konnte ich mich nicht richtig auf die Romane besinnen, und die ersten Beiden, die ich noch für mich mitnahm, konnte ich gar nicht intensiv begutachten. Aber die Autorin ist gut. Danach befand sich plötzlich auch noch das Bastelbuch auf meinem Arm. Ich war froh, daß ich es mitgenommen hatte. Ich hätte mich nur geärgert, wenn ich es liegen gelassen hätte.

Ein weiteres Mal suchte mich die freundliche Verkäuferin heim, die nun in der Zwischenzeit Mühe hatte, ihre freundliche Maske zu waren. Das Reorganisieren des Horrortisches hatte ihrer Laune stark zugesetzt, nachdem diese schon durch den Kunsttisch etwas in Mitleidenschaft gezogen worden war.

So langsam mußte ich aber auch zu Potte kommen, denn das spanische Backbuch drückte mir zu sehr gegen mein Handgelenk und ich hatte auch Mühe, die vier Bände der "Chronik dieses Jahrhunderts" auf meinem Bücherstapel zu balancieren.

Meine Augen glitten an den Regalen entlang, und als sich Titel wie "Aussöhnung mit dem inneren Kind", "Perlen der Baghavadgita" oder "Praxisbuch des magischen Wohnens" häuften, bemerkte ich, daß ich in die Esoterikabteilung abgeglitten bin. Da ich von der ganzen Sache nicht unbedingt viel halte, nahm ich nur "Das Magische Wissen vom Mond" und "Das Tao der ganzheitlichen Selbstheilung" mit. Diese Bücher sind bestimmt nicht schlecht, sie sind mir nämlich von einer anderen Kundin empfohlen worden. Oder sagen wir mal, ich sah das Leuchten in ihren Augen, als sie diese beiden Bücher gefunden hatte. Ein Gespräch fand eigentlich nicht statt, aber ich vertraute auf ihren Geschmack. Es war nicht sehr einfach, diese beiden Bücher zu bekommen, da sie selbst die beiden letzten Exemplare schon in ihren Armen hatte. Nachdem ich sie aber nicht mit Worten überzeugen konnte, mir die Bücher friedlich zu überlassen, mußte ich zu härteren Mitteln greifen. Als sie zu Boden stürzte und durch die Hiebe mit dem "Bebilderten Atlas der Erde" geschwächt war, konnte sie ihre Verteidigung mit der Enzyklopädie nicht aufrecht erhalten, und ich schnappte mir die beiden Bücher und wechselte das Stockwerk um ihren Beschimpfungen aus dem Wege zu gehen. Sooo wahnsinnig ausgeglichen scheinen diese Esoterikjünger auch nicht zu sein...

Ich empfand es als sinnvoll, meine Bücher neben dem frisch sortierten Horrortisch zwischzulagern. Die Verkäuferin (das Wort "freundlich" wäre hier in der Zwischenzeit fehl am Platze) rollte mit den Augen und herrschte mich an, ich solle diese Stapel doch bitte wieder in die Regale räumen, es sei eine Unverschämtheit, ihr diese Arbeit zuzumuten. Ich entgegnete, daß es nach meinem Empfinden äußerst unpraktisch erscheint, Bücher zurück in die Regale zu stellen, die man gerne erwerben möchte. Sie fragte etwas ungläubig, ob ich wirklich beabsichtigen würde, alle diese Bücher zu kaufen. Sie überschlug die Summe im Kopf, nachdem ich ihre Frage bejaht hatte, und just in diesem Augenblick kehrte auch wieder diese Freundlichkeit zurück. Sie brachte mir noch einen Kaffee und einen Stuhl. Ich fand aber nicht mehr viele interessante Bücher, und auch der Druck, endlich ein Geschenk finden zu müssen, störte etwas meine Ruhe, so daß ich meine gemütlich eingerichtete Ecke im Buchladen schon nach drei weiteren Stunden verließ.

An der Kasse sah ich eine andere Kundin, die ein Geschenk für ihre Tochter kaufte. Ich nahm das gleiche. Mit einem Gutschein kann man am wenigsten falsch machen. Ich konnte mich mit der Buchhändlerin auf neunzehn Monatsraten und Transport meiner Ware mit einer Spedition zu Lasten der Buchhandlung einigen und verließ glücklich den Laden. Am nächsten Tag schloß dieser Buchladen und die Verkäuferin setzte sich mit ihren restlichen Büchern, die sie in ihrer Handtasche transportierte, nach Teneriffa ab. Ich denke oft an sie, wenn ich den Teneriffa-Reiseführer durchblättere, den ich im Erdgeschoß der Buchhandlung bei den Kalendern gefunden hatte...

Sobad ich meinen Buchbestand wieder veräußert habe, werde ich ihr folgen...

Verfasst im Oktober 1997, Foto: manfred walker  / pixelio.de